Krönung Mariens im Himmel
Die mittlere Szene dieses Fensters mit der Krönung Mariens durch Christus ist rechts und links von Engeln umgeben. Auf beiden Seiten zieht der oberste Engel jeweils einen Vorhang zur Seite. Der Vorhang scheint sonst den Thron, auf dem Christus sitzt, zu verdecken. Tatsächlich können wir ihn aber als den Schlüssel zum tieferen Verständnis des ganzen Fensters verstehen. Denn dieser Vorhang meint, dass hier der Himmel geöffnet wird. Dass wir, die in der Kirche stehen und dieses Fenster betrachten, sozusagen hier schon einen Blick in den Himmel werfen, in jenen Bereich, der uns während unserer irdischen Existenz nur in Bild und Gleichnis und als Glaubenden eröffnet ist, aber über unser Fassungsvermögen hinausgeht. Wir sehen zwar Christus und seine Mutter mit den Gesichtszügen, wie sie uns schon von den anderen Fenstern her bekannt sind – wie sollten wir sie sonst erkennen?! –, aber wo sie sich begegnen, das ist der verklärte Bereich des Himmels.
Damit unterscheidet sich dieses siebte der Marienfenster von den sechs früheren. Die ersten sechs zeigten Bilder aus der Heilsgeschichte, das siebte geht über diese Welt hinaus. In den früheren Bildern war zwar „der göttliche Bereich“ fast immer schon mit Händen zu greifen, besonders durch die Darstellung der Engel, die ja für Gottes Wirken stehen, aber auch beim Pfingstbild durch die mächtig von oben hereinbrechenden Strahlen. Dieses siebte Fenster aber lässt ganz und gar „durch den offenen Vorhang“ in den Himmel und zum Thron der Herrlichkeit schauen. Man könnte sogar dieses siebte Fenster in geistlicher Deutung zum siebten Tag der Woche, zum Sonntag in Beziehung setzen, der im Wortsinn der Tag des Herrn ist und den Menschen ihre ewige Berufung in Erinnerung ruft. Dieses Fenster auf der Südseite bekommt von allen Bildfenstern die meiste Sonne ab. Wenn die Sonnenstrahlen durch die Gläser fallen, fangen die sonst vielleicht etwas kühl wirkenden Flächen an, warm zu leuchten. Dann entfaltet dieses Fenster am besten seine Fähigkeit, eine „andere Welt“ aufscheinen zu lassen.
Aber nicht nur die oberen Engel am Vorhang, auch die anbetenden und musizierenden Engel sind Hinweise auf Gottes Welt. Geige, Trompeten und Harfe können an Konzertsäle denken lassen und an alle anderen Formen von Musik, die mit ihrer Schönheit, die Menschen über sich erhebt.
Der Betrachter ist so im wahrsten Sinn des Wortes eingestimmt, die eigentliche Bildmitte zu begreifen. Pfarrer Gemmeke nannte das Motiv „Krönung Mariä“. In der christlichen Kunstgeschichte ist die Krönung Mariens eine abendländische Schöpfung am Ende des 12. Jahrhunderts. Dabei wurde gern die geistliche Schriftdeutung des 45. Psalms ab dessen zehntem Vers zu Hilfe genommen. Gerade die dichterische Ausdrucksweise kann gut etwas von der Wirklichkeit des Himmels vermitteln, die doch oft schwer zugänglich ist, in die Maria aber aufgenommen wurde, wie wir glauben. „Die Königstochter ist herrlich geschmückt, ihr Gewand ist durchwirkt mit Gold und Perlen. Man geleitet sie in buntgestickten Kleidern zum König.“ (Verse 14–15a)
Als König ist Christus dargestellt: Mit Krone und Zepter, mit Reichsapfel, der gleichzeitig das Universum versinnbildet, dessen Sinn und Ziel Christus ist, und mit purpurnem Mantel. Von seinem Haupt gehen Strahlen aus. Das Alpha und das Omega finden sich hier eingewebt in das weiße Untergewand, so wie sie schon bei dem zuerst behandelten Christusfenster im offenen Buch zu sehen waren. Er hält eine zweite Krone in seiner Rechten, um damit seine Mutter zu krönen, die vor ihm kniet. Noch wichtiger als die Tatsache, dass er sie krönt, ist zuerst, dass Maria nach ihrem Tod wieder bei Christus, ihrem Sohn ist und an seiner Auferstehungswirklichkeit teilhat. Ihr Leben, angefangen vom ersten Moment ihrer Existenz und ihrer frühesten Kindheit – wir sahen sie als Jungfrau im Tempel – über die Empfängnis Jesu, seine Geburt, sein Leiden, die Herabkunft des Geistes und den Tod Josefs, um nur die Momente zu nennen, die unser Fensterzyklus darstellt, ihr ganzes Leben findet in der Herrlichkeit ihres Sohnes Aufnahme, Würdigung und Vollendung. Auf diese Weise lässt sich das Bild von der Krönung deuten.
Aber damit ist die Deutung noch nicht beendet. Bei genauerem Hinsehen kann man bemerken, dass auf der rechten Seite neben Christus auf dem Thron noch ein freier Platz ist. Es ist der Platz für Maria. In der christlichen Kunstgeschichte ist das Thronen Mariens zur Rechten ihres Sohnes ein durchaus häufiges Motiv.
Offensichtlich hat der Künstler bewusst die Szene so gestaltet, dass Maria kniend gekrönt wird, bevor sie an der Seite Christi Platz nimmt. Vielleicht wollte er damit einerseits die Würde Christi hervorheben und gleichzeitig zeigen, dass auch Maria nicht zuerst von sich aus, sondern durch Gottes Gnade erlöst ist, dass sie von Anfang an bis Ende die von Gott Erwählte ist.
Die Haltung des Knienes wird vielleicht noch verständlicher, wenn man schließlich bedenkt, dass sie nicht für sich allein da ist. Maria steht für die Kirche, für jedes einzelne ihrer Glieder wie für alle zusammen, wie es schon beim Pfingstbild angeklungen ist. Das Motiv von der Krönung und Inthronisation Mariens ist in der christlichen Kunstgeschichte immer auch auf die Kirche hin verstanden worden. Dass Maria mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde und bei Christus und dem Vater ist, ist für jeden Christen, ja für jeden Menschen Verheißung, die wir erhoffen dürfen.
Diese Theologie fasst mit wenigen Sätzen die Präfation vom Hochfest Mariä Aufnahme in den Himmel zusammen: „All-mächtiger Vater, du hast die jungfräuliche Gottesmutter in den Himmel erhoben, als erste empfing sie von Christus die Herrlichkeit, die uns allen verheißen ist, und wurde zum Urbild der Kirche in ihrer ewigen Vollendung. Dem pilgernden Volk ist sie ein untrügliches Zeichen der Hoffnung und des Trostes. Denn ihr Leib, der den Urheber des Lebens geboren hat, sollte die Verwesung nicht schauen.“
Für die Beziehung Marias zur Kirche gibt es in dem Bild noch einen, zwar sehr dezenten, dennoch sprechenden Hinweis. Es sind die zwölf Sterne in ihrem Heiligenschein. Wir sahen die zwölf Sterne schon im zweiten Marienfenster oben um das Marienmonogramm (übrigens an gleicher Stelle im sechsten Fenster um das Josefsmonogramm). Sie sind eine Anspielung auf das „große Zeichen“ der Frau in der Offenbarung des Johannes (12, 1–6), die einen „Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt“ hat (Vers 1). Schon in diesem frühchristlichen biblischen Bild wird die Frau nicht als Einzelperson, sondern als die Verkörperung einer Vielheit gesehen. Die zwölf Sterne bezeichneten zunächst die zwölf Stämme Israels. Somit steht die Frau sinnbildlich für das Volk Israel. Im zweiten Schritt, in dem Moment, als das auf die zwölf Apostel gegründete neue Zwölf-Stämme-Volk entstand, war die Frau das neue Israel, die Kirche. Was lag näher, als Maria, die das Urbild der Kirche ist, mit der Zierde der zwölf Sterne zu versehen! Der genannte Abschnitt aus der Offenbarung des Johannes ist Teil des Lesungstextes am Hochfest der Aufnahme Mariens in den Himmel. Die Zwölf-Sterne-Symbolik dieses Abschnitts schwebte dem Juden-Christen Paul Lévy bei seinem Vorschlag für die Europaflagge vor: Zwölf Sterne auf blauem Grund. So hat der Europarat 1955 die Flagge beschlossen, und 1986 wurde sie von der Europäischen Union übernommen.
Ich möchte den Abschnitt über dieses letzte und alle sieben Marienfenster mit der Abbildung des oberen Bogenfeldes abschließen, das genau dem des ersten Marienfensters entspricht.