Maria im Tempel von Jerusalem
Dieses Bild nimmt in der Reihe der Fenster in mancherlei Hinsicht eine besondere Stelle ein. Es ist das Bild, das besonders dem Glaubensgeheimnis unseres Patroziniums geweiht ist, nämlich, dass Maria vom ersten Moment ihrer Existenz an von dem Schaden der Erbschuld ausgenommen worden ist. Das heißt, im Hinblick auf die Erneuerung der gesamten Schöpfung, die in Jesus Christus und durch ihn begonnen hat, hat Gott die Mutter Christi bereits als neues Geschöpf ins Leben gerufen. In ihr ist im Voraus verwirklicht, was der Apostel Paulus später jedem Christen als begonnene Wirklichkeit zuspricht: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden.“ (2 Kor 5, 17)
An dem Bildmotiv ist außerdem besonders, dass es einem außerbiblischen Text folgt, dem Protevangelium des Jakobus vom Ende des zweiten Jahrhunderts nach Christus, welches von der jungen Kirche jedoch nicht in das Neue Testament aufgenommen wurde. Es schildert die Geburt, Kindheit und Jugend Mariens, die gleich in die Geschichte der Geburt und Kindheit Jesu übergeht. Dieser Text, wenn er auch kein Teil der Bibel ist, hat doch die christliche Frömmigkeit und Kunst sehr inspiriert. Der westlichen Tradition entsprechend nannte Pfarrer Gemmeke die hieraus dargestellte Szene „Opferung Mariä“. In der Ostkirche ist die Begebenheit als Tempelgang Marias bekannt.
Genau genommen fasst unser Fensterbild wenigstens drei verschiedene Momente, die das Protevangelium schildert, zusammen. Die Darstellung der Eltern Marias, Anna und Joachim, rechts im Bild (beide mit Heiligenschein) lässt an den Moment denken, da die Eltern ihre dreijährige Tochter zum Tempel in Jerusalem bringen. Damit erfüllen sie das Versprechen der kinderlosen Anna, wenn sie denn ein Kind bekommen sollte, es Gott zu schenken. Der Priester am Altar scheint Maria zu empfangen und zu segnen. Er ist gleichzeitig der Hohepriester, der in der Legende wenig später vorkommt; sogar die zwölf Glöckchen des Ephods sind bei genauem Hinsehen am Saum seines Gewandes auszumachen. Zu diesem Zeitpunkt ist Maria im Tempel bereits zwölf Jahre alt geworden. Die Darstellung der sechs um Maria herum verteilten Mädchen spielt darauf an, dass sieben Jungfrauen, unter ihnen auch Maria, dazu ausersehen waren, für den Tempel einen Vorhang anzufertigen. Nach dem Protevangelium des Jakobus war Maria zu diesem Zeitpunkt bereits dem Josef in Obhut gegeben worden. Vom Alter her scheint dieser Moment am besten zur Darstellung Marias selbst zu passen. Sie steht also kurz vor ihrer „Berufung“, die das nächste Fenster zeigt.
Das Bild enthält noch eine Reihe weiterer Details: Die Gestalt am rechten Bildrand wird ein weiterer Priester sein. Von den zwei honigfarbenen Figuren links neben den zwei Mädchen könnte der linke einer der Patriarchen Abraham, Isaak oder Jakob sein, der rechte ist Mose. In seinen Händen finden sich die Gesetzestafeln, die groß auch hinter dem Hohenpriester zu sehen sind. Die linke von den zwei roten Figuren am Ende des Treppengeländers ist ein Prophet mit einem Spruchband. All diese alttestamentlichen Gestalten machen deutlich, dass Maria eine Tochter Israels und seiner Verheißungen war, in der aber der Neuanfang des Heils begann. Als Zeichen dafür kann man die Pflanzen- und Blumenvielfalt ansehen: Lorbeer, Rosen, Lilien, Trauben u.a.
Ich möchte dieses Fenster das Fenster der Jugend nennen, weil Maria hier die Schönheit der Jugend und ihrer Entfaltungsmöglichkeiten ausstrahlt.